Philipp Staab: Falsche Versprechen Wachstum im digitalen Kapitalismus

Sachliteratur

Das Buch blickt hinter die Fassade der digitalen Glitzerwelt: Dahinter lauern altbekannte Probleme in neuem Gewand.

Philipp Staab: Falsche Versprechen. Wachstum im digitalen Kapitalismus..
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Philipp Staab: Falsche Versprechen. Wachstum im digitalen Kapitalismus.. Foto: Argonne National Laboratory (CC BY-SA 2.0 cropped)

28. Juni 2017
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In seinem Essay „Falsche Versprechen. Wachstum im digitalen Kapitalismus“ geht der Soziologe Philipp Staab der Frage nach, ob die Digitalisierung das Versprechen eines neuen Wachstumsschubes halten kann. Die Digitalisierung identifiziert Staab zunächst als „neuen Messias des Wachstums“ (S. 15f). Sie strukturiere jedoch nicht nur die Ökonomie, sondern auch grosse Teile staatlicher Verwaltungsprozesse. So stelle beispielsweise Amazon über seinen Cloud-Computing-Dienst Amazon Web Services in den USA einen bedeutenden Teil der digitalen Infrastruktur des amerikanischen Verwaltungs- und Regierungsapparates. Ausgehend von dieser Feststellung entwickelt Staab auch seine Theorie des „digitalen Kapitalismus“ weiter, deren Grundsteine er bereits in anderen Texten gelegt hat (zum Beispiel Nachtwey/Staab 2016).

Dieses Konzept definiert er provisorisch als die „Durchsetzung und Verbreitung von Informations- und Kommunikationstechnologien und der mit ihnen verbundenen ökonomischen und ideologischen Dynamiken“ (S. 11). Als treibende Kräfte der Entwicklung hin zu einem digitalen Kapitalismus beschreibt er die grossen Internetunternehmen Amazon, Google und Apple, da diese Basistechnologien anbieten, die in den verschiedensten Kontexten genutzt werden und durch ihre enormen finanziellen Kapazitäten die Macht haben, weitgehende Umstrukturierungsprozesse in Gang zu setzen. Als wesentliche politisch-ökonomische Triebkraft hinter dem digitalen Kapitalismus identifiziert Staab das Konsumptionsproblem.

Damit bezeichnet er den Widerspruch, dass sich einerseits die Produktivkräfte rasch entwickeln, sich andererseits aber die Nachfrage nicht entsprechend steigert. Aufgrund dieses Dilemmas geht mit der Entwicklung der Produktivkräfte nicht automatisch eine Steigerung des ökonomischen Wachstums einher. Die zentrale These von Staabs Essay ist nun, dass der digitale Kapitalismus verspreche, dieses Problem durch die Rationalisierung des Konsums zu beheben.

Rationalisierung des Konsums

Die Rationalisierung des Konsums beschreibt Staab analog zu der seiner These nach der Vergangenheit angehörenden Rationalisierung der Produktion. Letztere habe ab den 1980er Jahren unter dem Schlagwort der „Lean Production“ („Schlanke Produktion“, Anm. Redaktion) vor allem aus einer Dezentralisierung der Produktion und der verstärkten Integration von Wertschöpfungsketten bestanden. Parallel hierzu kommt es gegenwärtig zu einem Rationalisierungsschub, den Staab griffig als „Lean-Consumption“ bezeichnet (S. 64f). Als deren zentrale Charakteristika macht er vor allem drei Faktoren aus. Erstens eine effizientere Warenzirkulation durch die Rationalisierung der Lagerlogistik, wie sie vor allem bei Amazon beobachtet werden kann. Zweitens eine durch allgegenwärtige Datenerhebung ermöglichte individualisierte Werbung, die dem gesamten Onlinehandel zugrunde liege. Drittens der allzeitliche Zugriff auf den Warenmarkt durch Shopping-Apps auf tragbaren Geräten, die es ermöglichen, den Einkauf schnell noch auf dem Heimweg im Bus zu erledigen.

Effizienzgewinne werden dabei vor allem durch eine Art digitale Selbstbedienung realisiert: War vormals noch Personal dafür nötig, meine Bedürfnisse zu erkennen und mir in Läden Waren zu verkaufen, so lässt sich dieses nun weitgehend durch digitale Programme einsparen. In diesem Zusammenhang erinnert Staab an das Konzept des „Prosumers“, die Figur, in der ProduzentIn und KonsumentIn verschmelzen. In Bezug auf die namensgebende Wachstumsproblematik stellt er fest, dass die Rationalisierung des Konsums keine neue Nachfrage generieren kann und deshalb mit dem Einzelhandel um dasselbe Konsumvolumen konkurriert, das auch ohne den E-Commerce realisiert worden wäre. Das Konsumptionsproblem bleibt deshalb weiterbestehen und der vielbeschworene Wachstumsschub erweist sich als falsches Versprechen.

Konsum gegen Produktion?

Staabs Beobachtung einer „Lean Consumption“ erweist sich für eine kritische Theorie des digitalen Kapitalismus als überaus nützlicher Baustein. Vor allem, weil sie in der Lage ist, Analogien zwischen der Rationalisierung von Produktion und Konsum aufzuzeigen und so das Theorem des „Prosumers“ weiterzuentwickeln. Auch die Feststellung, dass das Versprechen „disruptiver Innovation“, also die Neuerfindung ganzer Marktsegmente, auf der ideologischen Ebene ein zentrales Element des digitalen Kapitalismus darstellt, hat gerade in Bezug auf die von ihm untersuchten Wachstumsversprechen hohe Erklärungskraft. Fraglich ist dagegen, ob Staabs Ausspielen von Konsum- gegen Produktionssphäre einer Theorie des digitalen Kapitalismus zuträglich ist.

Seine These ist hier, dass in der Produktionssphäre „eine grundlegende Veränderung der Rationalisierungslogiken nicht stattgefunden“ habe (S. 58). Staab sieht in der Dezentralisierung und Individualisierung der Produktion vielmehr alte Strategien der 80er und 90er Jahre. Digitale Technologien radikalisieren für ihn nur klassische Kontrollstrategien der Überwachung, weshalb er vom „digitalen Taylorismus“ spricht (S. 92f.). Nun trifft dieses Argument jedoch auch auf die von ihm angeführten Neuerungen in der Konsumsphäre zu. Das von ihm zitierte Theorem des „Prosumers“ als Beobachtung der Rationalisierung des Konsums stammt selbst aus dem Jahr 1980 (Toffler 1980).

Die Integration von Konsum und Produktion stellt unabhängig von der Digitalisierung, gerade im Zusammenhang mit der Strategie der Selbstbedienung, eine bewährte Rationalisierungsstrategie dar. Paradebeispiel für eine solche KonsumentInnenarbeit sind die Warenhäuser und Selbstbau-Produkte von IKEA. Das heisst nun keineswegs, dass Staabs Beobachtungen falsch wären. Die mit der Figur des Prosumers beschriebenen Rationalisierungsstrategien werden unter Bedingungen der Digitalisierung auf eine neue Stufe gehoben, die vorher völlig undenkbar war. Gleiches trifft auch auf die Produktionssphäre zu.

Die den aktuellen Rationalisierungsstrategien zugrundeliegenden Ideen reichen sogar noch weiter als in die 1980er Jahre zurück, nämlich bis zur Kybernetik der 1950er Jahre. Bereits dort wurde die Strategie entwickelt, industrielles Management mittels Feedbacktechniken, wie sie auch Staab mit dem Begriff der „Peer-to-Peer-Herrschaft“ identifiziert (S. 96 f.) zu automatisieren und zu einer kontrollierten Selbstorganisation zu gelangen. Es sind jedoch erst die heutigen Technologien der digitalen Prozesssteuerung, die diese Strategien in vollem Umfang realisierbar machen. In der Nachkriegszeit war die Idee des unmittelbaren Feedbacks schlicht technisch nicht realisierbar, da das industrielle Steuerungspersonal nicht über die heutige Sensortechnologie und vernetzte Kleinstcomputer verfügte.

Technik und Strategie

Sowohl in der Konsum- als auch in der Produktionssphäre ist die digitale Technologie also eingebettet in historische Strategien und Kämpfe, die ausserhalb der Technologien selbst zu verorten sind. Die technologische Entwicklung hebt diese Strategien auf eine weitere Ebene und führt teilweise zu deren Transformation. Deshalb gilt es, sowohl die Entwicklungen der Konsum- als auch der Produktionssphäre in eine kritische Theorie des digitalen Kapitalismus mit einzubeziehen, wie es Staab selbst mit seinem Theorem des „digitalen Taylorismus“ ja auch tut. Philipp Staab leistet mit dem vorliegenden Essay einen wertvollen Beitrag zur Weiterentwicklung dieser Theorie. Lesenswert ist der Band vor allem aufgrund der originellen Dekonstruktion der aktuellen Wachstumsdiskurse und seiner empirisch unterfütterten prägnanten Thesen zur „Lean Consumption“.

Simon Schaupp
kritisch-lesen.de

Philipp Staab: Falsche Versprechen. Wachstum im digitalen Kapitalismus. Hamburger Edition, Hamburg 2016. 133 Seiten, ca. 15.00 SFr ISBN: 978-3-86854-305-6

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